Henri Pousseur: VOTRE FAUST (Variable Oper): Theater Basel, Premiere 8.11.2013
Die einzige Oper des erst 2009 gestorbenen belgischen Komponisten Henri Pousseur ist in der Musikwelt noch so gut wie unbekannt. Die Schweizer Erstaufführung (in Koproduktion mit der Berliner Gruppe „Work in Progress“) der 1969 in Mailand uraufgeführten Oper wurde deshalb mit Spannung erwartet.
Das bekannte Faust-Motiv wurde dabei vom französischen Librettisten Michel Butor neu interpretiert: Der junge Komponist Henri – die Namensgleichheit mit Pousseur kommt sicher nicht von ungefähr – erhält von einem Theaterdirektor den Auftrag, eine Oper zu komponieren. Einzige Bedingung: Ein Faust muss es sein. Dabei wird er von den beiden Damen Maggy und Greta (eine Dualform der Faust-Figur Margarete) naturgemäss eher behindert als unterstützt. Der mephistophelische Theaterdirektor fährt mit grossem Geschütz auf, um Faust, resp. Henri zu verführen: Ein Jahrmarkt füllt die mit farbigen Glühbirnen behängte Bühne, 4 Musikkapellen aus Frankreich (Männer in Röcken mit Bérets), Deutschland, Italien und England (mit Pilzfrisuren à la Beatles) spielen munter drauflos. Dabei ist der Blick auf die Theaterkulisse freigegeben, inklusive aller Kabel, Rohre und Aufhängevorrichtungen, was durchaus reizvoll ist.
Auf diesen Jahrmarkt wird in der Pause auch das Publikum gebeten. Hühnersuppe und Getränke werden ausgegeben, und die Holz-Eier, die jeder Zuschauer am Eingang bekommen hat, sollen im Sack Maggy oder im Sack Greta landen. Das Publikum kann nämlich mitbestimmen, durch die Eier-Abstimmung hat man der Geschichte bereits eine Richtung gegeben. Nach der Pause können die Zuschauer zusätzlich durch abfällige lautstarke Äusserungen eine Szene abklemmen, oder durch Zischlaute die abfälligen Laute übertönen und die Szene weiterspielen lassen. 5 verschiedene Endfassungen gibt es, und das Ensemble musste sie alle proben. Ein Riesenaufwand, wofür vor allem dem Dirigenten Gerhardt Müller-Goldboom Respekt zu zollen ist.
Bei soviel Aktion und Interaktion (Regie: Aliénor Dauchez) sollte man einen spannenden Abend erwarten, doch dem ist nicht so. Da mögen auf der Bühne Professoren lautstark ihre Theorien erklären, Schausteller ihre Shows anpreisen, Moderatoren zungenfertig durch die Abstimmung führen, Installationstafeln aufleuchten, eine Luftkissenwippe die Geliebten durchschütteln und (lebende) Hühner herumflattern. Zwischen den Protagonisten passiert jedoch recht wenig. Die Szenen ähneln Baukastenelementen, die Bühne einem Setzkasten, bei dem bald das eine, bald das andere Kästchen erleuchtet wird. Dass die Szenenfolgen selbstgewählt sind, macht sie nicht weniger willkürlich und bald scheinbar unzusammenhängend.
Mit den Protagonisten mag sich niemand identifizieren, zu abgehoben, zu unsympathisch, zu distanziert wirken sie. Henri (Franz Rogowski) wird als lispelnder Nerd dargestellt, der ellenlange monotone Monologe über Musiktheorie hält. Der Theaterdirektor (Peter von Strombeck) ist ein schmieriger Agent, und ob Maggy oder Greta (beide: Julia Reznik) gerade auf der Bühne steht, ist nicht nur häufig unklar, sondern dem Zuschauer bald einerlei. Emotionen kommen da nicht hoch. Man stimmt ab und stimmt ab und landet – wen wundert’s in Basel – am Schluss irgendwo in der Mitte zwischen der künstlerischen Freiheit und der Abhängigkeit vom Sponsor, zwischen der ewigen Liebe und dem ewigen Werk. Wie war noch mal der gewählte Schluss? Eigentlich ist dem Zuschauer nach drei Stunden alles egal.
Das mag auch an der Musik liegen. Zum einen tritt diese für eine Oper recht spärlich auf, zum andern ist die von Pousseur favorisierte 12-Ton-Musik nicht unbedingt leicht zu ertragen. Atonaler Funk-Jazz? Schräger elektronischer Serialismus? Die Musikrichtung kann man nicht wirklich benennen. Will man auch nicht.
Die Oper soll schockieren und protestieren. Aber wogegen eigentlich? Das Bildungsbürgertum? Den Opernbetrieb? Die Abhängigkeit der Kunst von Kommerz? Oder gegen das Faustmotiv à la Gounod, Goethe, Mann, das hier ganz schön selbstironisch verwendet wird? Irgendwie wirkt das alles nicht mehr zeitgemäss. Publikumseinbezug ist auch nichts Neues, gelebte Demokratie für die Schweiz ein alter Hut. Einzig die lebendigen Hühner und Ziegen für die schwarze Messe schockieren. Aber auch nur die Tierschützer.
Alice Matheson