Theater Basel: „TEWJE“ Welt-Uraufführung Musik: Olivier Truan, Choreographie: Richard Wherlock Premiere: 20. November 2015 Grosse Bühne
Theater Basel
Was entsteht, wenn der Komponist und Klezmer-Musiker Olivier Truan und der Choreograph Richard Wherlock zusammenkommen? Eine überraschende/eindrückliche, tagesaktuelle Ver-sion von „TEWJE“. Das Buch von Scholem Alejchems (1859-1916) „Tewje“ ist der Klassiker der jüdischen Literatur. Die Geschichte des Milchhändlers wurde durch das Musical „FIDDLER ON THE ROOF“, oder in der deutschen Version „ANATEVKA“ bekannt. Sie spielt im ausgehenden 19. Jahrhundert. Diesen Klassiker als Ballett auf die Bühne zu bringen, reizte Richard Wherlock, welcher sich schon seit langem mit der jüdischen Kultur befasst. Er kreierte schon 1993 sein Stück „Stetl“, welches „von London bis Moskau“, so Wherlock, getanzt wurde. Ins Stetl kehrt nun Richard zurück. „Tanz ist ein geeignetes Medium um Emotionen zu transportieren“ erläuterte Wherlock in einem Interview. Seine Choreographie ist geprägt vom Pas de deux, vom Einzeltänzer und kleiner Gruppen. Spannend und folgerichtig sind diese Zweiergruppen inszeniert: Da tanzt als Tewje Frank Fannar Pedersen mit seiner Frau Golde, Ayako Nakano. Als Zeitel Andrea Tortosa Vidal mit Jorge Garcia Pérez als Schneider Mottel, getanzt von Dévi Azélia Selly als Chave und Fedja Ruochen Wang als junger Ukrainer. Als Hodel und den Studenten Pertschik erleben wir Tana Rosas Sune und Anthony Ramiandrisoa. Deborah Maiques Marin als die Heirats-vermittlerin Jente und Javier Rodriguez Cobos als der Junggeselle Lejser-Wolf prägen tanzend ihre Rollen mit Freude und Vergnügen. Für den Rabbi Sergio Bustinduy hat das Schadchen Jente anscheinend noch keine passende Rebbezen gefunden. Massenszenen! So intensiv und prachtvoll sie auch inszeniert sind, Wherlocks Spezialität liegt im Intimen, Kleinen, in der Kleingruppe. Das heisst aber nicht, dass in Tewje die grossen Gruppen abfallen. Im Gegenteil: Die Präzision der gesamten Compagnie lässt, wie in Basel üblich, keine Wünsche offen. Präzision, Kraft, schwebende Leichtigkeit, Eleganz: diese vier Begriffe prägen den ganzen Abend. Keine der Tänzerinnen, keiner der Tänzer ist besser oder weniger gut als der/die andere. Das ganze Ensemble tanzt wie aus einem Guss. Olivier Truan hat mit seiner Musik, ein Auftragswerk für den Ballettdirektor, eine Komposition geschaffen, welche der Choreographie gerecht wird. Oder ist es umgekehrt: Wird die Choreographie der Musik gerecht? Weder noch! Das Ballett „Tewje“ ist als Gesamtkunstwerk zu verstehen. Das SOB und Kolsimcha, das Ballett Basel wachsen an diesem Abend zu einer Einheit zusammen, welche man sich eindrücklicher nicht wünschen kann. Kolsimcha, Contemporary Klezmer, die Gruppe des Pianisten Olivier Truan mit den Klarinettisten Michael Heitzler und Slava Cernavka, dem Bassisten Daniel Fricker, dem Schlagzeuger Christoph Staudenman und dem Posaunisten Simon Girard wurde begleitet und unterstützt vom Sinfonieorchester Basel (SOB) unter der hervorragenden Stabführung von Alexander Mayer. Durch das Zusammenspiel der beiden so unterschiedlichen Klangkörper entstehen neue, span-nende Klangfarben, welche eine grossartige Einheit mit dem Ballett und der Bühnenausstattung bilden. Ein Dank gebührt speziell dem Tonmeisterteam unter Robert Hermann. Man/frau musste schon genau hinhören um festzustellen, was Naturklang und was verstärkt war. Die Bühne wurde eingerichtet von Bruce French, die Kostüme von Catherine Voeffray entworfen und für die subtilen Videoeinspielungen zeichnen Bruce French und Andreas Guzman verantwortlich.
Ein Wort jedoch noch zum letzten Bild: Die Vertreibung, die Flucht aus dem Stetl ist heute so aktuell wie zur Entstehungszeit der Geschichte von Scholem Alejchem. Hier im Stetl ist es eine Bevölkerung, welche fliehen muss. „Nur einige wenige“?! Ob es hundert, tausend oder wie heut-zutage Millionen sind, welche aus ihrer Heimat durch Gewalt und Terror vertrieben werden, oder auch nur aus schierer Not, Wirtschaftsnot wegziehen, die Tragik bleibt dieselbe. Und aus diesem Grund ist das Werk von Truan und Wherlock so aktuell.
Wenn man bis jetzt das Buch von Scholem Alejchems „Tewje“ las, kommt einem automatisch “Wenn ich einmal reich wär“ aus „Anatevka“ in den Sinn. Seit der Premiere von Wherlocks Ballett „Tewje“ werden einem vor allem die farbigen Bilder, die eindrückliche Musik, die unerhört präzise Arbeit der Basler Ballett-Compagnie in den Sinn kommen.
Die Musik, die Choreographie, die Arbeit des Ballett Basel auf der Bühne, die Ausstattung, alle diese Elemente vereinen sich auf der grossen Bühne des Theater Basel zu einem unvergesslichen Erlebnis. Ein Erlebnis, welches vom zahlreich erschienen Publikum, das Haus war praktisch ausverkauft, mit einer verdienten langen „Standing Ovation“ belohnt wurde.
Peter Heuberger Basel