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BASEL/ Grosse Bühne: Ballett Basel WHERLOCK / TRUAN TEWJE

26.11.2015 | Ballett/Tanz

Basel: Theater Basel – Grosse Bühne – Ballett Basel – Wherlock/Truan „Tewje“ – Sinfonieorchester Basel – Kolsimcha – Alexander Mayer, musikalische Leitung  –  Besuchte Aufführung: 23.11.15

Unbenan
Richard Wherlock. Foto: A. Isenegger

Sie leben unter schwierigen Umständen in einem ukrainischen Dorf in der Übergangszeit zum 20. Jahrhundert und besitzen ausser ihren Traditionen und ihrer Lebensfreude nichts – die Bewohner des Stetls. Unter ihnen Tewje mit seiner Gattin Golde und den drei heiratswilligen Töchtern. Tewje hält eisern an den jüdischen und familiären Traditionen fest. Dabei gerät er jedoch in einen inneren Konflikt, als die zweitälteste Tochter den Eltern den revolutionären Studenten Pertschik als Bräutigam präsentiert. Kein Schwiegersohn nach Wunsch für Tewje, aber immerhin jüdischen Glaubens. Tewje weiss, dass eine Ehe nur dann wirklich erfüllt ist, wenn die Eheleute sich lieben. Und da ihm das Glück seiner Töchter sehr am Herzen liegt, mag er über seinen Schatten springen und gibt den beiden seinen Segen. Bei der jüngsten Tochter, welche den christlich-orthodoxen Ukrainer Fedja gegen den Willen ihrer Eltern heimlich heiratet, kommt es zum endgültigen Bruch zwischen dem Vater und der Tochter – das Opfer der Tradition. Die Tragödie der Tradition im Kleinen wird durch die Traditionstragödie im Grossen überrollt: Die jüdische Bevölkerung wird – einmal mehr – auf brutalste Art und Weise aus ihrem Stetl vertrieben.

Wer hätte gedacht, dass die Uraufführung des Auftragswerkes des Basler Ballettdirektors und Choreographen Richard Wherlock gerade auf die ersten Aufführungen hin so rasch, so schrecklich an Aktualität gewinnen würde? Die Geschichte Tewjes und der Bewohner des Stetls – uns vor allem durch das Musical „Fiddler On The Roof“ bekannt – steht stellvertretend für all die Völker, welche zur Zeit vor unmenschlichstem Terror fliehen und besitz- sowie heimatlos irgendwo auf der Welt Schutz vor Verfolgung, Folter und Tod suchen müssen. Steht zu Beginn die Lebensfreude, das Feiern im Vordergrund, kündigt sich bevorstehendes Grauen beim Durchmarsch der Flüchtlinge durchs Stetl bereits im mehrheitlich fröhlich geprägten ersten Akt an. Da ist die Welt für den im Stetl sehr geachteten Traditionalisten Tewje noch in Ordnung und gerät nur sanft aus den Fugen. Von der kommenden Bedrohung will der tief in seinem Glauben und den Traditionen verankerte Mann nichts wissen. Am Schluss bleibt er zusammen mit Golde alleine vor dem familiären und politischen Scherbenhaufen.

Richard Wherlock spricht in „Tewje“ eine besonders aufwühlende, bei der Vertreibung eine ungewohnt brutale, harte Tanzsprache. Bei der Vertreibung sieht man nur die in Panik Fliehenden. Die Schergen, welche das Stetl niederbrennen und von hinten auf die fliehenden Menschen schiessen, bleiben feige im Hintergrund und für den Zuschauer unsichtbar. Die Verantwortlichen blicken via Videoeinspielung (stark: Andreas Guzmann/Bruce French) regungslos auf das entsetzliche Geschehen nieder. Erneut gelingt es Wherlock, jeder seiner Figuren eine persönliche Identität einzuhauchen. So glaubt man dem fantastischen, sprunggewaltigen und ausdrucksstarken Frank Fannar Pedersen als Tewje jede Bewegung sowie mimische Regung. Als seine Frau Golde brilliert Ayako Nakano. Andrea Tortosa Vidal, Tana Sosas Sune und Dévi Azélia Selly verleihen Tewjes Töchtern Zeitel, Hodel und Chave liebenswerte Charakterzüge. Besonders eindrücklich gelingt es Dévi Azélia Selly den Wandel Chaves von der „jüngsten Tochter“ zur selbstbestimmten jungen Frau, welche sich mit ihrer Heirat offen gegen Eltern und (deren) Traditionen stellt und die harte Konsequenz daraus, nämlich die Verstossung, zusammen mit ihrem Fedja trägt, tänzerisch umzusetzen. Zu meiner grossen Freude erhält Ruochen Wang in Tewje als Fedja die Gelegenheit sich in einer grössere Rolle, als sie ihm bisher vergönnt war, zu beweisen. Er besteht seine „Feuerprobe“ sowohl technisch als auch im Ausdruck mit Bravour. Es ist immer wieder erstaunlich, welches Bewegungsrepertoire dieser flinke „Tänzer mit den tollen Sprüngen“ abruft. Zudem gefallen Jorge Garcia Pérez als Schneider Mottel, Anthony Ramiandrisoa als Student Perchik sowie Sergio Bustinduy als Rabbi. Ein Highlight für sich sind Debora Maiques Marin als Heiratsvermittlerin Jente und Javier Rodriguez Cobos als deren Klient Leser-Wolf, der gerne eine der Töchter Tewjes ehelichen möchte. Welche, ist eigentlich nicht soooo wichtig. Und so erinnert die äusserst komische Brautwerbung an Alberichs Werbung um die Rheintöchter – weiawala!!! – Herrlich! Nebst den fantastisch choreographierten handelnden Personen gelingen auch die Massenszenen und Tänze grossartig. Auch hier hat Meister Wherlock seine choreographische Sprache weiter entwickelt und versteht es, klassischen mit jüdischem Tanz sowie Elementen aus dem Tanztheater zu einer Einheit zu kombinieren. Die eindrücklichen Videoeinspieler von Andreas Gzuman/Bruce French, welche über der durch Jordan Tuinman stimmungsvoll ausgeleuchteten Bühne von Bruce French sowie die liebevoll detailliert gestalteten Kostüme von Catherine Voeffray verleihen den optischen Eindrücken zusätzliche Intensivität.

Der Komponist Olivier Truan, welcher selber am Piano im Orchestergraben mitwirkt, perfektioniert durch seine wunderbare, aufwühlende Musik dieses Ballettereignis – anders kann man es nicht nennen. Das über alle Massen ergreifend aufspielende Sinfonieorchester Basel (SOB) unter der souveränen, feinfühlig auf die Tänzerinnen und Tänzer abgestimmten Leitung wird ergänzt durch die Formation „Kolsimcha“ mit Michael Heitzler (Klarinette), Daniel Fricker (Kontrabass), Simon Girard (Posaune), Christoph Staudenmann (Schlagzeug) und eben Olivier Truan (Piano). „Kolsimcha“ verleiht den berührenden Touch von Klezmer und sorgt zusammen mit dem SOB für ein besonders intensives Hörerlebnis.

Ein intensiver Ballettabend, an welchem sich die Tänzerinnen und Tänzer die Seelen aus dem Leib und die Musiker aus den Instrumenten spielen – wohl im Bewusstsein um die schrecklichen Ereignisse, welche zur Zeit die Welt erschüttern. Die Botschaft kommt auch an diesem Abend an: mehr als 15 Minuten tosender Applaus, davon mindestens 10 Minuten als Standing Ovation!

Ich wage gar nicht (erneut) zu schreiben, dass diese Produktion künstlerisch schwer zu toppen sei – wenn überhaupt. Denn Richard Wherlock, die Compagnie des Balletts Basel sowie das Sinfonieorchester Basel werden wohl – wie gewohnt – das Gegenteil beweisen.

Michael Hug

 

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