Winterfestspiele Baden-Baden: „ARIADNE AUF NAXOS“ 18.2. (Premiere) – Schick-verführerische Verwandlung:
Renée Fleming und Robert Dean Smith im Verwandlungszauber. Foto: Andrea Kremper
Die Libretti von Hugo von Hofmannsthal lassen sich in ihrer poetischen Überhöhung alltäglicher Dinge bekanntlich viel zitieren. Als Zeuge der nun zu den Winterfestspielen Baden-Baden erarbeiteten Neuinszenierung des mit Richard Strauss 1912 geschaffenen und 1916 überarbeiteten kunstvoll verarbeiteten Antiken-Stoffes liegt es nahe, die Frage Ariadnes an Bacchus „Wie schaffst Du die Verwandlung, mit den Händen, mit Deinem Stab?“ an den Dirigenten Christian Thielemann zu richten. Denn wie der künftige Dresdner Generalmusikdirektor am Pult der wieder einmal zu Recht als Wunderharfe bezeichneten Sächsische Staatskapelle Dresden das finale Hinübergleiten in eine andere Welt, ein anderes Leben hörbar macht, ist aller Faszination und Bewunderung wert. Sein hellwacher Blick auf die so heterogen zwischen Opera seria und Opera buffa, zwischen Spätromantik, Belcanto und Barock pendelnde und doch in sich geschlossene Partitur beginnt bereits mit dem Vorspiel, wo es gilt besonders viele Divergenzen zu bündeln. Noch der kleinsten Note widmet er seine Aufmerksamkeit, ohne sich in Einzelheiten und den Blick über das Große Ganze zu verlieren. Solcherart lässt sich die Aufführung geradezu auf der Stuhlkante sitzend, die Ohren gespitzt und jedes Detail gebannt in sich aufsaugend verfolgen. Die große Kunst bei diesem Stück ist es, die trotz der reduzierten Besetzung schnell zur dicken Soße aufkochende Partitur wirklich kammermusikalisch zu behandeln. Nicht nur da, wo Strauss wie z.B. in der Schubert-nahen Begleitung von Harlekins Lied oder dem Gesang der Nymphen nur einzelne Instrumente einsetzt, mehr noch dort, wo sich die Ebenen überlappen und wie in der Vereinigung von Ariadne und Bacchus üppige Entfaltung angesagt ist. Höchste Transparenz waltet hier noch über die Aufschwünge des sich in einem riesigen Crescendo steigernden Finale, ohne dass es an Intensität, Klangrausch und aggressiven Akzenten wie den „Bocksprüngen ins Heiligtum“ mangeln würde. Mit dynamischem Geschick ermöglichen es Thielemann und seine formidablen Musiker (seidige Streicher, leuchtende Holzbläser, warm glänzendes Blech) die Stimmen jederzeit präsent zu halten, sie über dem Orchester schweben und an Phrasen-Enden hörbar ein- und ausschwingen zu lassen. Als Ganzes betrachtet ist Musik in solcher Vollendung umgesetzt wahrlich höchste und, um wieder Hofmannsthal zu zitieren, eine „heilige Kunst“.
Hingegeben stumm verfolgen lässt sich diese Eigenproduktion der Festspiele (mit leider nur 2 Reprisen, aber das Seltene ist eben auch das Kostbare) nicht nur in akustischer Hinsicht, denn was der schon mehrfach in Baden-Baden tätige Philippe Arlaud auf die Bühne gezaubert hat, geht so ganz konform mit dem Klangbad und verhilft der Apotheose des Stückes zu einer Magie, die es auch dem Zuschauer ermöglicht wie verwandelt in eine neue Dimension abzuheben. Dies beginnt bereits in jenem Moment, wenn die Stühle, auf denen zuvor noch die Party-Gesellschaft des reichsten Mannes von Wien die Vorführung auf der Bühne verfolgt hat, in den Bühnenhimmel entschweben. Spätestens da erweist sich der Franzose wiederum mehr als Bühnenbildner denn als Regisseur. Wenn es in der Vergangenheit auch öfter Gründe gab bei Bühnenbild-Inszenierungen Regisseuren ein schlechtes Zeugnis auszustellen – hier ist kein Anlass dazu, denn Arlaud weiß als Personalunion beider Komponenten genau, wo bei der Personenregie bloßes Arrangieren genügt und beides am besten ineinander greift. Mag es auch im Vorspiel hie und da ein paar Löcher an spielerischer Beweglichkeit geben, spätestens nachdem die geschwungenen weißen Wände, vor denen das Tohuwabohu der Vorbereitungen stattfindet, nach oben gezogen werden und den Blick auf einen perspektivisch zwischen wellengleichen Wandsegmenten nach hinten verlaufenden und in breiten Stufen ansteigenden Raum freigeben, wird klar, dass hier inszeniertes Stück und Realität eine Metamorphose bilden. Die Hintergrundprojektion wechselt von einer Zypressen-Allee über einen zuerst bewölkten Himmel zur sternklaren Nacht, in die das geläuterte Paar hinausgeht, ehe es von der aufgehenden Sonne verschluckt wird. Mag das auch mancher als Kitsch betrachten, das schicke Bühnendesign, in dem ein großer naturalistischer Stein um so mehr auffällt, spricht eine moderne und zugleich zeitlose Sprache. Da bedarf es zur Verständigung zwischen Ariadne und Bacchus wirklich keiner ausgetüftelt psychologischen Regie mehr, hier regiert die Musik und eine damit übereinstimmende Bühnenatmosphäre, zu der auch die farblich subtil zwischen äußerer und innerer Welt schaltende Lichtregie Arlauds mit Unterstützung von Felix Kirchhofer und die rollen-immanenten Kostüme von Andrea Uhmann beitragen.
Das Schwärmen über diese in allen Belangen festspielwürdige Wiedergabe geht weiter bei den Solisten, die allesamt selbst so viel Bühnenerfahrung und Talent mitbringen, um etwaigen inszenatorischen Oberflächlichkeiten spontan auf die Sprünge zu helfen. So wie es der Auftraggeber der abendlichen Soiree von den engagierten Künstlern eben verlangt und ihnen an Improvisationsgabe zugesteht. Besonders von Zerbinetta, als die Jane Archibald im pinkfarbenen Varieté- Federkleid und schwarzen Netzstrümpfen gelöst, locker und jederzeit Herrin der Situation sowohl das flatterhaft leichte Mädchen als auch die mitfühlende Frau glaubhaft verkörpert und mit ihrem bis in die dreigestrichenen Spitzen klar ansprechenden und keine Nuance auslassenden Koloratursopran in ihrer großen Standpauke über die Männer einen erwarteten Höhepunkt der Vorstellung setzt.
Dass Renée Fleming sogleich mit ihrer ersten Ariadne Festspiel-Format erreichen würde, war nach ihrer Marschallin vor drei Jahren zu erwarten. Das cremige Timbre, die sinnlich weich gespannten Bögen, die apart und glanzvoll angegangenen Höhenaufschwünge, aber auch die Feinheit im unteren Stimmbereich sowie ihre in ergreifenden Farben zum Ausdruck kommende Todessehnsucht summieren sich zu einer edlen Interpretation, bei der sich jeder Ton wie eine Kostbarkeit ausnimmt und dennoch fließend rundet. In einem schwarzen Kleid, über das sie nach der Rettung durch Bacchus einen golden glitzernden Umhang legt, in dem sie zuvor von dem als stumme Figur eingebauten Minotaurus herein gezogen wird, ist sie zudem eine königliche Erscheinung.
Das größte Kompliment, das einem Bacchus gemacht werden kann, ist die Feststellung, dass es möglich ist, diese bekannt undankbar hoch notierte Partie nicht unter Hochdruck, Stemmen und Pressen, sondern als melodisch eigentlich sehr dankbare Aufgabe schön, süffig und mit überzeugendem Impetus ganz auf Linie zu singen. Robert Dean Smith ist diesbezüglich einer der ganz wenigen, die dieses Attribut verdient haben. Und weil sich sein Tenor zudem noch ausgesprochen kultiviert und klangschön öffnet, erreicht die Schluss-Szene im Verein mit Partnerin und Orchester eine süchtig machende Wirkung. Es scheint aber am uninteressanten Charakter des Bacchus zu liegen, dass er trotz aller Lorbeeren (hier auch mit solchen bekränzt) nicht dieselbe Publikumsgunst wie der Komponist erringen kann. Als solcher feierte die passend schlaksige, mit dunkler Locken-Perücke hinreißend burschikos spielende und zuletzt als Verliererin (Zerbinettas neuer „Gott“ ist nicht sie, sondern der Offizier) noch einmal alle Sympathien auf sich ziehende Sophie Koch den größten Erfolg der Aufführung. Fast zum Zerreißen gespannt und doch in jedem Moment beherrscht ist der nuancenreiche Einsatz ihres Mezzos die spiegelbildliche Stimme eines höchst empfindsamen, schnell in Rage geratenden, noch unerfahrenen Komponisten, der in der überschwänglichen Preisung der Tonkunst sich gar auf seinen Flügel stellt.
Die erstklassigen Leistungen erstrecken sich über alle weiteren Rollen: den immer noch im Vollsaft seines Baritons stehenden Musiklehrer von Eike Wilm Schulte, die vierköpfige, in Hosenträgern, gestreiften Oberteilen und schwarzen Hüten steckende Komödianten-Abordnung der Bayerischen Staatsoper mit dem prägnant schönstimmigen Nikolay Borchev als Harlekin an der Spitze, gefolgt von den schon rein figürlich so individuell verschiedenen Kenneth Roberson (Scaramuccio), Steven Humes (Truffaldin) und Kevin Conners (Brighella), das einnehmend harmonische Nymphen-Trio mit den höhenschlanken Sopranistinnen Christina Landshamer (Najade) und Lenneke Ruiten (Echo) sowie dem warm strömenden Mezzo von Rachel Frenkel (Dryade), der spielflinke und fein tenorale Christian Baumgärtel als Tanzmeister, Roman Grübner (Lakai), David Jerusalem (Perückenmacher) und Michael Ventow (Offizier). Nicht zuletzt der auch als Schauspieler eine glaubhafte Figur machende, nur statt eines wienerischen einen preußisch korrekten Haushofmeister sprechende René Kollo. Eben Luxus für eine Aufführung, die das Werk als erlesene Preziose für Feinschmecker erlebbar macht – und noch stärkeren Jubel verdient hätte als es das durchaus begeisterte Festspiel-Publikum zuletzt würdigte.
Udo Klebes