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BADEN-BADEN: DER NUSSKNACKER (Hamburg-Ballett – bezaubernder Mädchentraum vom Tanz

08.11.2015 | Ballett/Performance

Festspiele Baden-Baden: „DER NUSSKNACKER“ (Hamburg Ballett) 7.11.2015 – Bezaubernder Mädchentraum vom Tanz

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Grand Pas de deux als Höhepunkt des Traumes vom Tanzen – Anna Laudere (Louise) und Edvin Revazov (Günther)Copyright: Holger Badekow

John Neumeier gehört zu den Choreographen, die sich mit dem Original eines Balletts nicht zufrieden geben. Bei Marius Petipas 1892 uraufgeführtem Klassiker, dessen Handlung auf einer von Alexandre Dumas d.Ä. ins Französische übertragenen Erzählung von E.T.A.Hoffmann basiert, ist das eigene Hinzutun von Tanzschöpfern ohnehin obligat, weil von der ursprünglichen Choreographie außer dem großen Pas de deux vor dem Finale so gut wie nichts erhalten geblieben ist. Erst 1934 kam das vor allem durch Tschaikowskys Musik populär gewordene Werk erstmals in den Westen, nach dem letzten Krieg folgten sodann die ersten Bemühungen, das Stück von seiner Banalität als Weihnachtsmärchen mit reichlich Zuckerwerk zu befreien und der Handlung eine tiefere, psychologische Bedeutung zu geben. Darunter war auch John Cranko, von dessen wohl sehr bunt und musical-artig geratener und später nie mehr gezeigter Version Neumeier die Idee der Umwandlung des Weihnachtsabends in die Geburtstagsfeier Klaras bzw. Maries und deren Traum an der Schwelle vom Kind zum Erwachsensein übernommen hat. Bei der Frankfurter Premiere, Neumeiers erster Station als Ballettdirektor, vollzog sich das noch auflagengemäß in bereits bestehenden Bühnenbildern und Kostümen der Vorgänger-Produktion. Erst bei der Übernahme einige Jahre später an seiner heutigen Wirkungsstätte Hamburg beauftragte er Jürgen Rose mit einer neuen Ausstattung. Wie wir es von diesem Meister seines Fachs gewohnt sind, adeln sie jede Inszenierung durch ihre hoch ästhetische und geschmackvolle Verbindung von Stilen und Farben zu einer Augenweide. Für besagten „Nussknacker“ hat Rose zunächst einen großbürgerlichen Salon mit Teppichhängern sowie einer Treppe in den ersten Stock kreiert, ehe der Traum Maries in die zunächst leere Bühne eines Ballettsaals mit Übungsstangen führt, wohin sie der auf ihrer Geburtstagsfeier eingeladene Ballettmeister Drosselmeier entführt und sie in die ersehnte Welt des Tanzes einweist. Die ebenfalls im Traum herauf beschworene Ballettaufführung mit einem großen Divertissement verschiedenster Figuren findet schließlich in einem prachtvollen Theater unter Leuchterglanz statt, in dem sich im Hintergrund der typisch rote Samtvorhang hebt und wechselnde Hintergrund-Prospekte für die einzelnen Beiträge freigibt. Mal erinnert ein mit wie Wattewolken betupfter blauer Himmel an Watteaus Malereien, eine Palme besorgt den Duft exotischer Stimmung, ein Pavillon führt in den lebenden (Blumen)-Garten, die Fassade einer Kathedrale schafft Feierlichkeit. Die Kombination des Raumes mit den vielen bunten, aber nie schrillen oder überladenen Farben der Kostüme ist auch hier ein Fest fürs Auge. Ebenso wie Neumeier hier das Ballett zaristischer Prägung wieder aufleben lässt, das Stück quasi in seiner Entstehungszeit Ende des 19. Jahrhunderts verortet und die russische Schule in allen ihren formellen Ausprägungen richtig zelebriert. Den ersten Akt im Hause von Maries Eltern erzählt er mit liebevoller detailreicher Mimik und Gestik und verquickt beides virtuos mit dem Tanz. Frischen Wind bringt Maries Bruder Fritz ( Konstantin Tselikov mit Charme und ansteckendem Sprung-Impetus ) mit seinen Kadett-Kameraden in ihren schmucken sattgrünen Uniformen mit leuchtend orangen Bändern ins Fest. In deren Anführer Günther, der dieselbe Uniform wie der als Geschenk von ihnen mitgebrachte Nussknacker trägt, verliebt sich Marie sofort und erträumt sich ihn als Solisten des Hofballetts und Tanzpartner. Der große blonde Edvin Revazov hätte alle Voraussetzungen in dieser Rolle zu glänzen, doch leider fiel durch eine (hoffentlich nur) schlechte Tagesform in Gestalt von wiederholt unsauberen Landungen und schrägen Haltungen ein Schatten auf seine ansonsten bekannten Leistungen als eleganter Techniker und fürsorglicher Partner. Auch die Pas de deux mit Maries Schwester, der Primaballerina Louise sind von Revazovs Einschränkungen ein wenig betroffen – die Leistung von Anna Laudere vermochte dies kaum zu schmälern, auch wenn die Tänzerin in der Bühnenpräsenz neben ihrer jüngeren Schwester etwas blass blieb, denn Hélène Bouchet ließ von Anfang an, trotz ihrem für eine Zwölfjährige deutlich zu großen Körperwuchs, mit in Maries Sehnsüchte hineinfiebern, spielte mit Herz und dem Wandel von zunächst passend kindlicher Unbefangenheit zu jugendlichem Staunen und transportierte in ihren auf Spitze getanzten Sequenzen den Schwebezustand eines unfassbaren Glücks – bis sie am Schluss erwacht, von der Mutter die Treppe hochgezogen wird und enttäuscht die Realität erkennen muss. Zurück bleibt der ominöse Drosselmeier, den Lenker des Geschehens, dessen auffallend exzentrisches Auftreten Marie fasziniert – in einer Mischung aus eckig abgehobenen Bewegungen und sich in der Ausübung seines Berufs rundender, dem klassischen Ballett-Ethos entsprechender Linie. Carsten Jung zeichnet diese skurrile Figur, die bei der Probe den TänzerInnen, wie es zu Petipas Zeit bei Ballettmeistern üblich war, mit einem Stock drohte, mit nicht übertriebener Exaltiertheit, aber gegenüber Marie auch liebevoller Zugewandtheit. Zwischen diesen beiden Verhaltenspolen bot er gute klassische Schule in Pirouetten, Rondes de jambes und klar angesetzten Hebungen.

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Maries Geburtstagsfeier mit den Kadetten in der Mitte als belebendem Mittelpunkt. Copyright: Holger Badekow

Sein Ballett-Divertissement bietet Gelegenheit für einige solistische Präsentationen: im spanischen Tanz steht an der Spitze der Narren in ihren Schellenkappen und vom Tambourin angefeuert sogar die Erste Solistin Silvia Azzoni als Esmeralda; im Arabischen Tanz steuern Priscilla Tselikova und Florian Pohl orientalische Reize und schwebende Gelöstheit bei, als chinesischer Vogel beschwört Mayo Arii asiatisch geheimen Zauber herauf. Und Maries Bruder lädt mit seinen Kadetten den russischen Trepak zu zündender Wirksamkeit auf. Ansonsten ist das Corps de ballet in kleineren Paar-Gruppen mehrmals gefordert und zeigt was es heißt mit traditioneller, phantasievoll aufge- und verarbeiteter Schule für einen geschlossenes Gesamtbild zu sorgen. Neumeiers Hamburg Ballett steht auch hier für eine authentische und ganz in seinem Stil und seiner dramaturgischen Genauigkeit aufgehende Wiedergabe. Hinreichende Unterstützung ihrer tänzerischen Bedingungen bekamen sie von Garrett Keast, der die Philharmonie Baden Baden, abgesehen von einem manchmal etwas schwammigen und glanzlosen Tutti-Klang, sensibel in der Tempowahl durch den Farbreichtum und die Charakterstärke von Tschaikowskys Partitur steuerte.

Ausnahmsweise konnte Neumeier selbst diesmal nicht in den Schlussapplaus einbezogen werden, weil er anlässlich seiner Kyoto-Preisverleihung in Japan weilte. Der Jubel wäre ihm diesmal, noch mehr als bei einigen anderen Choreographien der vergangenen Jahre, sicher gewesen.

 Udo Klebes

 

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