Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

BAD KREUZNACH: Ohne Liebeslied, aber nicht lieblos. Der LandesJugendChor Rheinland-Pfalz

24.02.2020 | Konzert/Liederabende

Bad Kreuznach: Ohne Liebeslied, aber nicht lieblos. Der LandesJugendChor Rheinland-Pfalz  23.2.2020

Kann man sich ein beeindruckendes Chorkonzert vorstellen ohne ein einziges Liebeslied? Ein derartiges, ziemlich ernst gestimmtes  Programm präsentiert der LandesJugendChor Rheinlannd-Pfalz ausgerechnet am Faschingswochenende. Dennoch kann er sich beim 2. Termin in der Kurstadt Bad Kreuznach (gelegen an der Nahe, 40 km von der Landeshauptstadt Mainz,am Übergang des rheinhessischen Hügellandes in den Hunsrück) über mangelndes Interesse nicht beklagen. Der eher klein dimensionierte Rudi-Müller-Saal im Haus des Gastes  ist voll besetzt. Eine Woche lang haben die 38 jungen Leute in den Winterferien unter Leitung von Yuval Weinberg (Jg. 1990) geprobt. Der junge israelische Dirigent, der in Tel-Aviv, Berlin und Oslo studiert hat und Stipendiat des Deutschen Musikrates war, wird 2020/21 die Leitung des SWR Vokalensembles Stuttgart übernehmen. (Der Südwestrundfunk hat auch den 1. Konzerttermin in Kaiserslautern für sein 2. Programm mitgeschnitten.) Weinberg wirkt äußerlich fast noch jugendlich, kaum älter als manche der Sänger, aber sein Dirigat und das künstlerische Ergebnis beweisen den erfahrenen Chorleiter.

Wovon kann man singen, wenn man nicht von Liebe singt? Eine zündende Überschrift fehlt dem Programm. Peter Stieber, Präsident des Landesmusikrates, spricht in seinem Grußwort vom „Spannungsfeld zwischen Kontemplation und Ritus“ und von „den Sphären von Entrückung und mystischem Urglauben“. Falsch ist das nicht; es klingt nur ein wenig abgehoben für ein Programm, in dem es um durchaus sinnliche Bindungen an Natur, Religion und Kultur geht. Auffällig auf den ersten Blick ist, dass sämtliche im Programm vertretene Komponisten im 20. Jahrhundert geboren sind und nicht aus der mitteleuropäischen Musiktradition kommen – mit der einzigen Ausnahme von Johannes Brahms (1833-1897). Die Namen sind dem durchschnittlichen Konzertbesucher zumeist fremd. Interessanterweise findet sich aber zu allen Stücken zumindest ein Hörbeispiel auf Youtube oder der Homepage der Komponisten.

Auffällig schon bei den ersten Tönen ist der durchsichtige, kopfige, skandinavisch geprägte Chorklang,  den Weinberg mit den jungen Leuten erarbeitet hat. Am Anfang steht das Chorstück „Voices of Autumn“ des US-amerikanischen Komponisten Jackson Hill (Jg. 1941). Hill hat in den 1970er Jahren in Japan buddhistischen Gesang studierte und diese Erfahrung mit in seine Komposition eingebracht; „Voices of Autumn“ besingt in japanischer Sprache den Herbst. Ob allerdings der helle Chorklang wirklich  so gewollt ist, vermag ich nicht zu entscheiden. Original buddhistische Borduntöne und Melodiefloskeln klingen jedenfalls zumeist kehliger und kerniger. Für den estnischen Komponisten Veijo Tormis (1903-2017) waren die ethnischen und kulturellen  Traditionen in den baltischen Staaten von hoher Bedeutung, vor allem in der Zeit der sowjetischen Besatzung. So schrieb er z.B. einen Chorzyklus unter dem Titel „Vergessene Völker“. Von ihm singt

der Landesjugendchor „Pärismaalase lauluke“; das Programmheft bietet die englische Übersetzung oder Erklärung „An aboriginal song“; auf Deutsch würde man formulieren „Indigener Gesang“.

Es bleibt das Handicap des Abends, dass es zwar einen brauchbaren orientierenden Programmheft-Text von André Podschun gibt, aber keine Texte und keine deutsche Übersetzungen abgedruckt sind und der jeweilige kulturelle Hintergrund unterbelichtet bleibt. Konzertierende Musiker vergessen leider oft, dass Musik nicht nur Klangerlebnis ist, sondern auch kulturelle Begegnung. Diese wird in unserer Breiten um so schwieriger, je weniger die Musik den üblichen  Hörgewohnheiten zwischen mitteleuropäischem Chorwesen und modernem A-Cappella-Pop entspricht. Und sie wird zugleich um so wichtiger, je mehr der  Umgang mit anderen kulturellen Traditionen als Problem empfunden wird. Nicht von ungefähr bekennen sich im Programmheft Landesmusikrat und Landesjugendchor zum Appell der rheinland-pfälzischen Landesregierung gegen Hass und Hetze. Es sind aber gerade das Zuhören, Wahrnehmen und Verstehen, die als zivile Tugenden und Gegenmittel geübt werden müssen und in Konzerten wie diesem tatsächlich geübt werden können.

„Pärismaalase laluke“ erschließt sich allerdings recht leicht. Der Text besteht aus einem einzigen, energisch rhythmisierten Wort, „tabu“, das auf verschiedenste, aber stets energische Weise gesungen, gerufen, geflüstert oder geschrien wird. Begleitet wird es laut Programmheft von einer schamanischen Trommel, die für die unter der Sowjetherrschaft tabuisierten indigenen Musiktraditionen steht. Im Internet sind allerdings auch Aufführungen zu sehen, die einen drohend agierenden Trommler zum Repräsentanten der Repression machen. In Weinbergs Deutung ist das Instrument erst gar nicht zu sehen; irgendwo im Chor versteckt wird die Rahmentrommel zum Symbol des Widerstandes der Singenden. (Wir erinnern uns: Im Baltikum spricht man von der „Singenden Revolution“ der Jahre 1987-1991.) Mit dem norwegischen Wiegenlied „Gjendines Bådnlåt“ (unübersetzt!) im ansprechenden Arrangement des großen schwedischen Chorleiters- und komponisten Gunnar Eriksson (Jg. 1936) schließt der erste Konzertabschnitt. Einmal mehr fällt uns hier der ausgewogene Chorklang auf, und dabei ganz besonders die selbstverständliche Sicherheit und Lockerheit, die Weinberg in den exponierten Höhenlagen von Sopran und Tenor erreicht.

Liegt es am stark synkopierten, aber vom versierten Pianisten Hilko Dumno sanft intonierten Klaviersatz, dass man bei Johannes Brahms‘ Chorlied „Schöne Nacht“ op. 92, 1 keinen wirklichen stilistischen Bruch empfindet? Den innigen Tonfall treffen die Interpreten ausgezeichnet, und in einer kurzen Liedzeile blitzt kurz das ansonsten umgangene Liebes-Thema auf. („Der Knab‘ schleicht zu seiner Liebsten sacht.“) Im „Spätherbst“ op. 92,2 wendet sich die Thematik ins Metereologische; sanft lässt das Klavier den besungenen Nebel „auf Feld und Wald und Halde“ tropfen. Inhaltlich benachbart, aber stilistisch ganz anders kommt dann „Miniwanka or the Moments of Water“ daher, ein Chorstück des kanadischen Komponisten Raymond Murray Schafer (Jg. 1933). Wasser sei „der Klang, der uns vor allem die meiste Freude an seinen unzähligen Verwandlungen bereitet“, wird Schafer im Programmheft zitiert. Die Sprache verwendet er demgemäß lautmalerisch, wenn er sich der Wörter für Wasser, Regen, Strom, Fluss, Nebel und Ozean in den verschiedensten indigenen Sprachen Nordamerikas bedient. Interessant ist es, die im Internet verfügbare Aufnahme mit dem Vancouver Chamber Choir unter Jon Washburn anzuhören und dabei die mitlaufende, großenteils graphisch notierte Partitur zu verfolgen. Laut Schafers Angaben will er die Verwandlung von Regen zu Strömen und Seen bis hin zum Ozean schildern. Zwingend sind diese Vorstellungen aber nicht. Nicht nur ich habe die über einem ruhigen Klangband plötzlich erklingenden hohen und lauten Rufe als Auftauchen eines Vogelschwarms über einem stillen Gewässer interpretiert und mir im weiteren Verlauf auch Unter-Wasser-Geräusche vorstellen können. Abgesehen von der programmatischen Ebene ist es ebenso spannend wie amüsant, die Vielfalt stimmlicher Möglichkeiten zu beobachten. Da wird nicht nur gesungen und gerufen, sondern im Dienste der poetischen Idee auch ungeniert geschnalzt, geschmatzt und gezischt. Alles sitzt, man spürt die liebevolle Arbeit am Detail.

Die US-amerikanische Komponistin Caroline Shaw (Jg. 1982) hat 2016 einen Chorzyklus „To the Hands“ mit begleitendem Streichquintett geschrieben. Der Titel bezieht sich auf einen Bibelvers beim Propheten Sacharja Kap. 13 Vs. 6: „So man aber sagen wird zu ihm: Was sind das für Wunden in deinen Händen? wird er sagen: So bin ich geschlagen im Hause derer, die mich lieben.“ Dieser Vers liegt schon der 3. Kantate, „Ad manus“, aus dem christlich-mystisch geprägten Zyklus „Membra Jesu nostri patientis sanctissima“  („Die allerheiligsten Gliedmaßen unseres leidenden Jesus“) des norddeutschen Komponisten Dietrich Buxtehude (1637-1707) zugrunde. Shaws Vertonung  ist zugleich eine kompositorische Auseinandersetzung mit Buxtehudes Musik, von der immer wieder Bruchstücke, Echos und Reminiszenzen zu vernehmen sind. Der 3. Satz, „Her Beacon-Hand Beckons“, verzichtet zugunsten eines delikaten Chorklangs ganz auf Instrumentalbegleitung. Inhaltlich bezieht er sich auf eine Textstelle aus Emma Lazarus‘ Sonett „The New Colussus“ von 1883 über die New Yorker Freiheitsstatue. „Von ihrer Leuchtfeuerhand glüht weltweites Willkommen“, heißt es dort. Shaws Text führt den Gedankengang selbstständig weiter bis zum bekenntnishaften Schlusssatz „I / We will be a refuge“. („Ich / wir werden eine Zuflucht sein.“) Das im 6. Satz, „I will hold you“, vorgesehene Streichquintett wird durch das Klavier ersetzt, das immer wieder den typischen pochenden Sarabanden-Rhythmus einbringt – ein Zitat aus Buxtehudes Kantate, aber in dieser exponierten Form vielleicht auch ein Verweis auf Beethovens „Egmont“-Ouvertüre. Gleichviel: Aus Buxtehudes verinnerlichter, weltabgewandter Frömmigkeit scheint hier eine nach außen abstrahlende, weltzugewandte Haltung geworden zu sein. Dass Hilko Dumno diesen Satz mit einem ausgiebigen Brahms-Zitat „Guten Abend, gute Nacht“, einleitet, stellt sich im Nachhinein als improvisatorische Einlage heraus, die sich der frappierenden Ähnlichkeit der Melodieanfänge verdankt und zugleich noch einmal an die Brahms-Gesänge anschließt.

Zwischen die beiden Stücke von Shaw hat Weinberg ein Werk von Eran Dinur (Jg. 1966) gesetzt. Der in New York lebende  Komponist ist hauptberuflich als Filmemacher tätig und hat kürzlich ein Buch „The Filmmaker‘s Guide to Visual Effects“ veröffentlicht; seine Internet-Homepage enthält allerdings auch einen Hinweis auf seine Musik. „Neila“ ist eine Vertonung des Schlussgebets der Liturgie zum jüdschen Feiertag Yom Kippur. Anfänglich erinnert der Text an jüdische Synagogalmusik, geht dann aber mit dissonanten Klangballungen und abwärts fallenden Glissandi deutlich darüber hinaus – vielleicht im Bewusstsein der „Ambivalenz zwischen der Sehnsucht nach Geborgenheit im Glauben und der Beklommenheit vor dem Jüngsten Gericht“. (So das Programmheft.) „Again“, ein Chorstück des US-amerikanischen Komponisten David Lang (Jg. 1957) auf einen alttestamentarischen Text aus dem Buch Kohelet (auch „Prediger“ oder Ecclesiastes“ genannt), ist dagegen ein ruhiger, fast harmonisch wirkender  Abgesang. Den Abschluss bildet allerdings „Biegga luohte“, eine Volksweise aus Lappland in der abwechslungsreichen Vertonung des schwedischen Komponisten Jan Sandström (Jg. 1954), der sich ebenfalls der Rahmentrommel bedient, mit einer harten stimmlichen Attacke beginnt, einige schöne Tenorsoli aufweist und den Sopran glockenartig schwingen lässt.

Als das kurzweilige Programm mit seinem erstaunlich breiten Spektrum an Stimm- und Kompositionstechniken zuende ist, sind gerade einmal 60 Minuten vergangen. Das eher betagte, aber aufgeschlossene und schließlich begeisterte Publikum applaudiert lange und herzlich. Eine Zugabe bekommt es nicht; die Zeit habe nicht mehr gereicht, eine einzustudieren, erklärt Yuval Weinberg entschuldigend. Doch warum hat er nicht eines der Stücke wiederholen lassen? Und es bleibt noch ein konzertpädagogischer Wunsch offen: Wenn die Chormusik mit all ihren Möglichkeiten Zukunft haben soll, gehört ein solches Programm auch vor jüngere Ohren!

Andreas Hauff

 

Diese Seite drucken