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AIX EN PROVENCE / Festival: ELEKTRA. Neuinszenierung

03.08.2013 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

AIX EN PROVENCE/FESTIVAL: ELEKTRA – NI am 16.7.2013

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Franz Mazura und Donald McIntyre beim Schlussapplaus. Foto: Dr. Klaus Billand

Da hat er wieder einmal zugeschlagen und gezeigt, was ein Kenner des Opernhandwerks auch ohne (allzu) verrückte und bisweilen kaum noch nachvollziehbare Regieeinfälle mit profunder Kenntnis von Inhalt, Aussage und Musik eines großen Werkes der Opernliteratur anfangen kann: Patrice Chéreau, der einst in Bayreuth „Wagner vom Podest holen“ wollte, dann in der Tat auch holte und damit die Entwicklung des später so genannten Wagnerschen Regietheaters intensivierte. Auch er kam damals vom Theater, hatte aber die Demut sowie die intellektuelle und emotionale Kapazität, seinen konzeptionellen und dramaturgischen Neuansatz konsequent aus dem „Ring des Nibelungen“ zu entwickeln, tief in Psyche und Emotionen der Personen einzudringen und das Drama aus ihnen heraus zu gestalten, statt das Stück mit einem exogenen und deutungsneurotisch belasteten Regiekonzept zu belasten. Während man in Bayreuth in jüngerer Vergangenheit offenbar gerade nach möglichst opernunkundigen Regisseuren sucht und das zu Erwartende dann im Vorfeld als „spannend“ zu bezeichnen pflegt, verlässt sich Chéreau mit seinem Bühnenbildner Richard Peduzzi, der Kostümbildnerin Caroline de Vivaise und dem Beleuchter Dominique Bruguière auf Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Sie haben eben ein hochkarätiges Drama um den ewigen Fluch der Atriden geschrieben bzw. komponiert, in dem die Psychologie eine zentrale Rolle spielt. Dass so etwas in starkem Einklang mit der Musik tatsächlich spannendes Operntheater bescheren kann, hat Chéreau nicht nur mit seinem „Jahrhundert-Ring“ in Bayreuth, sondern zuletzt auch mit seinem Mailänder „Tristan“ wieder bewiesen.

Er hält sich in Aix fast penibel an die Regieanweisungen von Richard Strauss. In einem dunkelgrau-depressiven Palasthof, der schon optisch eine klaustrophobe Stimmung erzeugt, sieht man die Mägde als verwahrloste Frauen in trister Bekleidung unserer Tage das „Blut und immer neue Blut von der Diele abspülen“ – und dennoch wirkt das nicht verstaubt. Denn der Regisseur entwickelt eine fein zeichnende Personenregie, bei der die drei Frauen Elektra, Klytämnestra und Chrysothemis im Mittelpunkt stehen – alle drei total verschieden, alle drei sehr stark, und nun kommt es: Jede hat bei ihm ein Recht auf unser Verständnis, hat gute Gründe für ihr Verhalten. Elektra, die wie besessen in ihrem Rachegefühl für den Mord an ihrem Vater in einem Loch im Hof vegetiert; Klytämnestra, die zwar alle Macht besitzt, aber von den Gedanken an den Mord an Agamemnon gepeinigt wird, über den sie aber kein Wort verliert bzw. verlieren darf; und Chrysothemis, die um jeden Preis leben und aus dem Gefängnis ausbrechen will, das ihr der Vatermord beschert hat. Aus diesem Spannungsverhältnis entwickelt Chéreau Szenen von einer Emotionalität, wie man sie sonst in „Elektra“-Inszenierungen kaum sieht.

Da vollführt Elektra schon zu Ende ihres großen Monologs einen ekstatischen Tanz, wie eine von der Fiktion der Rache Besessene. Sie zeigt aber kurze Zeit später selbst der verhassten Mutter gegenüber für einen kurzen Moment menschliche Gefühle, als sie diese umarmt und den Kopf kurz in ihren Schoß legt, bis die Realität mit den Fragen nach dem „Opfertier“ wieder durchschlägt. Ein paar Momente lassen in dieser Szene beide scheinbar in ihre Seele und Sehnsüchte blicken. Evelyn Herlitzius ist eine mitreißende Elektra, die dieses ganz auf Psychologie ausgelegte Rollenprofil beherzt umsetzt, zu jedem Moment höchst authentisch gestaltet und alle Abgründe der zerrissenen Figur zeigt. Die Intensität ihrer emotionalen Aktion grenzt manchmal fast an Wahnsinn. Dazu hat sie die passende Stimme, keine mit wirklichem Schönklang mehr, wenn man von der Mittellage absieht, aber eine, die mit ihrer Ausdruckskraft und Attacke sowie Höhensicherheit zu dieser Rolle passt. Waltraud Meier ist bei Chéreau noch eine attraktive, jung wirkende Klytämnestra, die aber innerlich resigniert zu haben scheint. Das offenbart sie in ihrem mit großer Sensibilität begonnenen Dialog mit der Tochter – wieder ein Meisterwerk an Psychologie – und gibt mit ihrem klangvollen Mezzosopran bei größter Wortdeutlichkeit eine fast Sympathie erzeugende Charakterstudie. Dazu passt dann auch Chéreaus toller Regieeinfall, sie nicht mit dem üblichen Gelächter von der Bühne gehen zu lassen. Nach Elektras Offenbarung bleibt hier eine völlig gebrochene, ja nahezu paralysierte Frau zurück, die nicht einmal mehr die Kraft hat, den gereichten Zettel mit der „guten“ Botschaft zu lesen… Adrianne Pieczonka hingegen verkörpert mit ihrem jugendlich strahlenden Sopran und emphatischem Spiel das blühen wollende Leben und ist dennoch eine Figur von abgrundtiefer Traurigkeit. Selten war die Komplementarität dieser drei Frauen wohl so eindrucksvoll zu erleben.

Daneben verblasst der Bruder Orest mit Mikhail Petrenko, der hier nur noch als ein im Prinzip längst vergessener Fremder fast eine Nebenrolle zu spielen scheint. Er beobachtet mit seinem Pfleger (der gute alte Franz Mazura, was kommen da für Erinnerungen auf…) emotionslos lange Elektra bei ihren Versuchen, die Schwester zum Racheakt zu überzeugen. Orest ist hier mehr ein Vollstrecker – den ebenfalls in aller Grausamkeit zu sehenden Mord an Ägisth dem Pfleger überlassend – als ein auch engagiert handelnder Protagonist. Am Ende geht er desinteressiert von der Bühne ab, die wie in Trance zitternde Elektra zurücklassend, der er den letzten Akt ihrer langjährigen Sehnsucht genommen hat… Nun muss sie damit weiterleben. Mit Donald McIntyre, dem alten Diener, gibt es noch ein weiteres, gute alte Erinnerungen wachrufendes Wiedersehen. Erschütternd seine Mimik, als er mit den anderen Vertrauten am Hof Orest wieder erkennt – Momente, die man nicht vergisst! Roberta Alexander kann als Fünfte Magd mit angestrengten Höhen nicht ganz überzeugen. Florian Hoffmann ist als junger Diener etwas leicht besetzt. Tom Randle singt und spielt einen guten Ägisth in einer fantasievoll choreografieren Szene, in der er im Kerzenschein Elektras noch die tote Klytämnestra sehen muss, bevor ihn selbst das Messer trifft. Renate Behle als Aufseherin und Vertraute, Bonita Hyman als Erst Magd, Andrea Hill als Zweite Magd und Schleppträgerin, Silvia Hablowetz als Dritte Magd und Marie-Eve Munger als Vierte Magd singen und spielen tadellos, ebenso wie der Gulbenkian Chor.

Esa-Pekka Salonen dirigierte das Orchestre de Paris und zum ersten Mal die „Elektra“. Er liebt die Musik des beginnenden 20. Jahrhunderts, eine „Musik des fin-de-siècle“, die etwas total Neues sucht, aber gleichwohl noch in der alten Tradition verankert ist. Er hat noch wenig Opernerfahrung als Dirigent, wollte nach einigen schlechten Erfahrungen in seiner Jugend warten, bis sich optimale Bedingungen einstellen. Man könnte in diesem Sinne sein Dirigat als etwas zu vorsichtig und zurückhaltend bezeichnen. Die gerade bei diesem Werk oft dominierende musikalische Bombastik fehlte. Salonen setzte dafür ganz im Sinne gerade dieser Produktion auf die Feinzeichnung der Charaktere, ihre Psychologie und Emotionen, wo dann nur die wirklich dramatischsten Momente wie Riffe aus einem transparenten, wogenden Klang-Meer hervorstanden. Die Zwischentöne spielen offenbar für ihn eine ganz große Rolle. Man merkt, dass hier eine enge – und heute leider auch nicht mehr so selbstverständliche – Zusammenarbeit mit dem Regisseur besteht, und das schon seit über 20 Jahren.

Von Aix geht diese „Elektra“ an die Mailänder Scala, die New Yorker Met, nach Helsinki, an das Liceu in Barcelona und an die Berliner Staatsoper.

(Fotos in der Bildergalerie)

Klaus Billand

 

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