Stuttgart: Das Staatsorchester Stuttgart musiziert unter der Leitung von Cornelius Meister in der Liederhalle am 23.1.2022
In romantischen und wilden Zeiten
In „romantische Zeiten“ des Komponisten Jean Sibelius führt sein Violinkonzert in d-Moll op. 47 aus dem Jahre 1903, das er 1905 zu einer zweiten Fassung umarbeitete, die etwas weniger virtuos ist.
Diese zweite Fassung erklang beim Konzert mit dem Staatsorchester Stuttgart unter der inspirierenden Leitung von Cornelius Meister mit dem renommerten Geiger Emmanuel Tjeknavorian, der „Artist in residence“ des Wiener Musikvereins ist. Die eingängige Thematik dieses Werkes kam bei der Wiedergabe sehr gut zu Gehör. Dies galt vor allem für den rhapsodischen Kadenzenreichtum, den Emmanuel Tjeknavorian plastisch und elektrisierend zu Gehör brachte. Das charakteristische Hauptthema blitzte bei dieser Interpretation jedenfalls leuchtkräftig hervor. Und auch das lyrische zweite Thema wurde vom Solisten einfühlsam erfasst. Beim scharf umrissenen dritten Thema war Tjeknavorian dann noch mehr in seinem Element. Romantischer Gefühlsausdruck dominierte bei der frei entwickelten Durchführung. Und der kadenzreiche Solopart zeigte ebenfalls eine gut akzentuierte rhapsodische Fortspinnung. Elegische Wärme und Poesie zeichneten den zweiten Satz Adagio di molto aus, wo Emmanuel Tjeknavorian die weitgespannte Melodie ausgesprochen überzeugend traf. Das rondoartige Finale mit seinen Polonaise- und Tarantella-Rhythmen riss das Publikum aufgrund der feurigen Musizierweise des Solisten und des Staatsorchesters unter Cornelius Meister mit. So folgte ein hinreissender und nahezu unbeschwerter Ausklang. Als Zugabe spielte Emmnuel Tjeknavorian noch eine ergreifende armenische Volksmelodie.
Die Uraufführung von Igor Strawinskys „Le Sacre du printemps“ im Jahre 1913 löste einen großen Skandal aus. Diese zwei Bilder aus dem heidnischen Russland stellen als heilig-grausame Opferzeremonie das Schicksal eines jungen Mädchens dar. Cornelius Meister beschwor bei seiner ausgefeilten Wiedergabe mit dem Staatsorchester Stuttgart die Elementarkraft des Rhythmus eindringlich. Und auch die Schock-Harmonik erreichte bei dieser grandiosen Interpretation zuletzt einen überwältigenden Höhepunkt, als sich der D-Dur- und der Es-Dur-Akkord aufeinander schichteten. Im ersten Teil traten Jünglinge mit einer uralten Frau auf und verkündeten ungestüm den Pulsschlag des Frühlings. Das Flötenmotiv setzte sich durch, nachdem sich das Horn über dumpf-erregter Begleitung ankündigte. Und auch die „Jünglings“-Weise der Trompeten und Celli erwies sich bei dieser Wiedergabe als ausgesprochen markant. Das „Spiel der Entführung“ imponierte dann als wildjagendes Presto, das immer mehr ausuferte. Die vom Fluss heraufkommenden Mädchen bildeten einen irisierenden Kranz, dessen durchsichtige Harmonik Meister mit dem Staatsorchester bestens traf. Der neue Rhythmus wirkte hier noch einprägsamer, Cornelius Meister schien das Staatsorchester Stuttgart zu ständig neuen Höhenflügen anzuspornen. Rivalisierende Motive sorgten immer mehr für eine aufpeitschende Stimmung. Vier Lento-Takte mit dunklen Klangflächen, dumpfe Paukenschläge und ein mystischer Streicherakkord folgten beim Auftritt des Heiligen und Weisen. Auch die Largo-Introduktion im zweiten „Opfer“-Teil mit dem Motiv der Flöte und Solovioline beschrieb den schattenhaften Tanz der Mädchen sehr geheimnisvoll. Das Kopfmotiv des Ritualtanzes eskalierte zuletzt bei „Der heilige Tanz“ und der Auswahl des „Frühlingsopfers“.
Jubel, lang anhaltender Schlussapplaus.
Alexander Walther