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RÖTTINGEN bei Würzburg: FRÜHERE VERHÄLTNISSE von Nestroy. Premiere

22.06.2012 | KRITIKEN, Theater

RÖTTINGEN bei WÜRZBURG: FRÜHERE VERHÄLTNISSE am 21.06. 2012 (Premiere)

Man trifft sich im Leben immer zwei Mal, sagt ein Sprichwort, und oft ist damit eine unterschwellige Drohung verbunden: Wehe dem, der einen anderen demütigt, er wird vielleicht einmal gedemütigt werden; Heil dem, der Unrecht duldet, er soll vielleicht einmal über seine Peiniger triumphieren. Dahinter steckt der Wunsch nach ausgleichender Gerechtigkeit, der leider im realen Leben oft unerfüllt bleibt. Nicht so in der moralischen Komödie eines Johann Nepomuk Nestroy: Da trifft den gewesenen Hausknecht die Gunst des Holzpreises und der ehelichen Verbindung mit einer Professorentochter – und den bankrotten Materialienhändler die Last des knechtischen Daseins. Dazu tritt noch eine von der Liebe und vom Geld gleichermaßen getäuschte stabile Liebhaberin an ambulanten Bühnen – und fertig ist das Quartett der Leidenschaften. Und: Man trifft sich ein zweites Mal.

Das Problem, das den dramatischen Knoten schürzt, ist ein allzu menschliches: Man möchte sich in seinen sozialen Sphären einrichten und vermeiden, dass andere über die „früheren Verhältnisse“ Kenntnis erlangen, was bei so vielen Augenzeugen schwierig zu verhindern ist. Nestroy nutzt dieses Gebräu sozialer Diffusion und individueller Ängste meisterlich, um eine seiner eindrucksvollen Tragikomödien zu konstruieren: „Frühere Verhältnisse“ entstand kurz vor Nestroys Tod vor 150 Jahren, und sah den genialen Charakterschilderer im Januar 1862 gleichzeitig als Darsteller bei der Uraufführung im Wiener Quai-Theater.

Nun hat Nestroy leider über seine österreichische Heimat hinaus an Strahlkraft eingebüßt, was wohl auch sprachlich bedingt ist. Dem unabdingbaren Wiener Idiom droht selbst in Wien die Reduktion auf einen unspezifischen Alpensprech, und wer einen so herrlichen Ausdruck wie „Haus-Nemesiserl“ einem fernsehsprachlich verbildeten Publikum nicht mehr zuzumuten wagt, wird eh die Finger von Nestroy lassen. So ist es eine kulturelle Rettungstat ersten Ranges, wenn sich Wiener Schauspielertruppen in die weite Welt aufmachen, um Nestroys Geist hochleben zu lassen – und dann in der fränkischen Provinz landen; an einem Platze namens Röttingen, nach eigenem Bekunden der einzige Ort außerhalb Österreichs, in dem Wiener den Wiener Autor aufführen.

Das hübsche, mauerbewehrte Städtchen, näher an der lieblichen Tauber als am Maine gelegen, pflegt seit 1984 eine beachtliche Nestroy-Tradition. Eingeführt hat sie einst der Schauspieler Veit Relin, der heute noch als Prinzipal dem Torturmtheater Sommerhausen vor den Toren Würzburgs vorsteht. Er hat vor der romantischen Kulisse der Röttinger Burg Brattenstein als Anton Muffl debütiert und vielen Nestroy-Paraderollen auf unvergleichliche Weise das Wunderliche und das Gallige, das Heitere und das Tragische abgewonnen. Als „Zerrissener“ zum Beispiel ist er manchem noch in Erinnerung – eine hochphilosophische Gestalt im Gewande des Komödiantischen. Später übernahm Peter Josch seine Stelle und entzückte über Jahre hin mit seiner unverwechselbaren Wiener Deklamation, die noch jedem Satz eine Pointe entlockte.

Viele Jahrgänge fränkischen Weins flossen seither die Gurgeln hinab, und obwohl Röttingen – wie mancher Nestroy-Held zu seinem Titel – zum Attribut „Nestroy-Stadt“ kam, wurde der Wiener Komödiant 2009 mit „Theaterg’schichten durch Liebe, Geld, Intrige und Dummheit“ aus dem Spielplan der „Festspiele“ eliminiert. „Abgespielt“ sei Nestroy, war als sachkundiger kommunalpolitischer Beitrag in der Lokalpresse zitiert. Jetzt, zu seinem Gedenkjahr, kamen die „Früheren Verhältnisse“ noch einmal wieder. Nicht zwei, sondern vier Mal und mit bangem Blick auf Zukunft und Zuspruch. Denn in Röttingen will ein neuer Bürgermeister mit aller Gewalt bringen, was mittlerweile auf hundert anderen Freilichtbühnen in mediokrer Qualität langweilt: Musicals etwa, oder musikalisch eingedampfte Operetten. Nestroy lässt sich halt nicht auf den Comedy-Quatsch reduzieren, mit dem um Gunst buhlende Sender ihre Werbepausen füllen und ihre Zuschauer an ihr abgründiges Niveau anpassen.

Der Prinzipal der aktuellen Nestroy-Rettungstruppe heißt Reinwald Kranner, in Wien diplomiert als Musical- und Operettensänger, daselbst auch vom Raimundtheater bis zur Volksoper beschäftigt. Er stellt die „Früheren Verhältnisse“ als properes Sommertheater auf die von Helmut Mühlbacher sparsam möblierte Freilicht-Bühne, textgetreu, mit selbstironischen Seitenblicken und Spitzen gegen die Kommunalpolitik, die der amtierenden künstlerischen Leiterin Renate Kastelik auf unfeine Weise den Laufpass gab.

Kranner ist nicht auf plumpen Effekt bedacht, aber kratzt auch die schrecklichen Schründe unter der putzigen Oberfläche nicht allzu schmerzhaft auf. Dass er dazu fähig wäre, zeigt er, wenn er sich jenseits der „Grüaß Enk Gott“-Einlagen-Heiterkeit bewegt: Sein Anton Muffl hat die Scharten nicht verschmerzt, die ihm das Schicksal zugefügt hat; die Bitterkeit seiner Seele äußert sich in der grausamen Schneid, mit der er seinen aktuellen Herrn und früheren Hausknecht, jetzt ein Herr von Scheitermann, sekkiert. Der ist angstvoll darauf bedacht, vor seiner hochfahrenden Gattin die hochnotpeinliche Enthüllung seines früheren Hausknechts-Daseins zu verhindern – und Martin Muliar gestaltet die Seelennöte des geplagten Scheitermann noch überzeugender als seine parvenühaften Anpassungsversuche an die bürgerliche Schicht. In der Unbarmherzigkeit dieser Beziehung, die nur durch den komödienhaften Anstrich gemildert wird, zeigt sich Nestroy als unvergleichlicher Beobachter menschlicher Verhältnisse. Und genau deshalb lohnt es sich, dem Autor auch heute die Mühe des ernsthaften Theaters zu widmen.

In Röttingen geschieht das nur stellenweise: Im ängstlichen Streben, nur ja keine Langeweile aufkommen zu lassen, reiht sich Einlage an Einlage. Reinhard Krammer zieht die Trumpfkarte der Operette; lässt die Sterne der Oper tremolieren, parodiert und persifliert, wo es nur geht. Das ist nicht einmal unlustig und Krammer bringt seine textlichen Kalauer („Glücklich ist, wer verfrisst, was nicht zu versaufen ist“) mit einigem Gusto über die Rampe. Nun ja, in Röttingen sitzt auch nicht auf „jedem Fauteuil ein Kapitalist“, der die Festspiele finanzieren könnte. Man reiht sich auf Holzbänken an Biergartentischen und trinkt Röttinger Feuerstein – und jeder Cent, der in den Kassen klingelt, wird dankbar begrüßt, denn der Zuschussbedarf der letztjährigen Saison lag bei 115 000 Euro, sicher auch bedingt durch den kühl-feuchten Sommer.

Schwerer wiegt, dass etwa Rita Nikodim als Professorentochter und aktuelles Holzhändlersweib die Verstiegenheiten ihrer schwachnervigen Gattung wenig subtil gestaltet: Sie wird viel zu schnell zu prollig laut und viel zu ungehemmt handgreiflich: So etwas schickt sich für eine höhere Tochter nicht. Renate Kastelik, die (noch) künstlerische Leiterin der Röttinger Festspiele, Wienerin und Schauspielerin von der Pike auf, hat die Rolle der Peppi für sich selbst reserviert. Sie gibt der gescheiterten Tragödin, die sich nach dem Köchinnen-Dasein zurücksehnt, einen Hauch Melancholie mit, eine weise Distanz zum Schicksal. Die Begegnung mit Muffl wird nicht nur durch die wehmütig-nostalgische Weise vom „kleinen Café in Hernals“ zu einem Moment, in dem sich der quirlige Furor legt und einer Weltsicht Platz macht, die so ganz nestroyanisch wirkt: Die Einsicht der kleinen Leute in die Unausweichlichkeit ihres Schicksals und die sanfte Hoffnung auf ein kleines Glück. Solche Augenblicke versöhnen mit dem – vielleicht Not wendenden – Tand der Aufführung, der sich am Ende in schier endlosen Persiflage-Paraden vom „Freischütz“ bis zur „Carmen“ noch einmal Bahn bricht. Ob Röttingen 2014, in seinem Jubiläumsjahr, noch sein Alleinstellungsmerkmal pflegt?

Werner Häußner

 

 

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