2018 Sommer-Festivals in Finnland – 1. Teil
Das 27. Mikkeli Musik-Festival (4. – 7. Juli) , das 26. unter der Leitung Valery Gergievs, stand diesmal unter einem ungünstigen Stern. Der viel beschäftigte Maestro, den „umtriebig“ zu nennen eher untertrieben sein dürfte, hatte für Mikkeli, das früher einmal als die Sommer-Residenz seines Mariinsky-Theaters diente, gerade einmal 1 ½ Tage Zeit, genug, um 3 Konzerte zu leiten. Diese fanden ausgerechnet am Samstag und Sonntag statt, also an Tagen, an denen Finnen – sofern sie nicht Anhänger dieses Dirigenten sind – ihre Zeit lieber im „Mökki“, dem Sommerhäuschen, als im Konzertsaal verbringen. Kein Wunder also, dass gerade bei den Gergiev-Konzerten manche Plätze leer blieben.
Mikaeli, die idyllisch an einem See gelegene Konzerthalle. Foto: Archiv Sune Manninen.
Dabei hatten die Verantwortlichen vieles getan, um das Festival attraktiv zu machen und sich nach den Defiziten vergangener Jahre dringend benötigte Einnahmen zu sichern. Das 30jährige Bestehen des Konzert- und Kongresshauses Mikaeli mit seinem nach dem großen finnischen Bass Martti Talvela benannten Saal wurde mit einem mit prominenten Namen gespickten, diesem Sänger gewidmeten Seminar begangen, und für Ballettomanen war natürlich das nach 20 Jahren erstmalige Wiederauftreten des in Bestbesetzung antretenden Mariinsky-Balletts ein Muss. Auch die Jazz-Freunde kamen auf ihre Kosten.
Die für einen guten Kartenverkauf notwendige Vorberichterstattung war dem Finnland-Debüt Abisal Gergievs gewidmet, des 18jährigen Dirigentensohnes, eine Art Heimspiel für ihn, hatte er doch seit seiner Geburt jeden Sommer mit seiner Familie in Mikkeli verlebt. Er präsentierte sich dem Publikum mit einem Solo-Recital mit Werken von Schubert, Shostakovich, Rachmaninov und Chopin, wobei ihm die Rachmaninov-Préludes am besten zu liegen schienen, während der Schubert nach einem weicheren Klanggebilde verlangt hätte.
Abisal Gergiev bei der Probe zu seinem Recital. Foto: Archiv Sune Manninen
Im Abschlusskonzert des Festivals, das mit dem Klavierkonzert Skrjabins und der 8. Sinfonie Bruckners reichlich monumental ausgefallen war, war Abisal Gergiev der Solopart in diesem Klavierkonzert anvertraut worden, das er bereits im April unter der Leitung seines Vaters bei dessen Moskauer Oster-Festival gespielt hatte (Mikkeli war damit das 9. Konzertieren mit Valery Gergiev!). Um dem Festival trotz der Kürze seiner Anwesenheit mehr Einnahmen zu bescheren, war für 12 Uhr ein Konzert mit Werken von Sibelius und Rimsky-Korsakov angesetzt worden. Wegen dieses 90minütigen Konzert war die sonst um 16 Uhr beginnende Probe auf 17.30 Uhr verschoben worden, in der Gergiev sich vorwiegend auf die Bruckner-Sinfonie konzentrierte, die er vorher erst einmal dirigiert hatte (während seines Moskauer Festivals lediglich satzweise gespielt), aber für Konzerte mit den Münchner Philharmonikern benötigte. Exakt 8 Minuten vor dem zumindest auf dem Papier bestehenden Konzertbeginn um 19 Uhr erhielt Abisal Gergiev die Möglichkeit zu einer 15minütigen Probe, eine Vorgehensweise, die bei Valery Gergiev Usus ist und Solisten wie Toradze, Matsuev & Co. keine Probleme bereitet. Was für diese „normal“ ist, erwies sich aber für den Dirigentensohn als verhängnisvoll. Unter dieser Nervenbelastung, die durch einen Konzert-Mitschnitt des finnischen Rundfunks (jedoch aus leidvoller Erfahrung nicht direkt!!!) noch gesteigert wurde, kam es im 3. Satz zu einem totalen Auseinanderdriften zwischen dem Solisten und dem Orchester. Abisal Gergiev versuchte dies zu kaschieren, indem er weiterspielte; Gergiev blätterte verzweifelt in der Partitur und wusste nicht, wo sein Sohn gerade war und wie er mit dem Orchester einsetzen konnte. Kurz vor Schluss fand man sich wieder, und zumindest der Schlussakkord war wie der Beginn des 3. Satzes – nämlich zusammen. Ich bin sicher, dass dieser Vorfall von der überwiegenden Mehrheit des Auditoriums unbemerkt geblieben wäre, aber die Reaktion des konsternierten Solisten ließ darauf schließen, dass etwas passiert sei. Nach einer verlegenen Geste zu wem auch immer begann Abisal Gergiev, ohne die Bühne vorher zu verlassen, mit der ersten Zugabe (Rachmaninov), der kurz darauf eine weitere folgte. Für die wenigen anwesenden Journalisten war dieser Vorfall natürlich eine willkommene Gelegenheit, dieses „Desaster“ zu verbreiten, zumal Valery Gergiev selbstverständlich sofort angeordnet hatte, dass dieser erste Teil des Konzerts nicht gesendet werden dürfte, das mit einer Achten Bruckner fortgesetzt wurde, bei der Gergiev sich zusammen mit einem triumphal aufspielenden Orchester als großartiger Interpret dieses Komponisten erwies. Die Münchner können sich freuen – Gergiev „kann“ Bruckner.
Aber es sollte nicht vergessen werden, dass es einen Verantwortlichen oder sogar Schuldigen für diese „Katastrophe“ gab, die eventuell noch lange in den Kleidern Abisal Gergievs hängen bleiben wird: dieser Schuldige heißt (zumindest nach meiner Meinung) Valery Gergiev. In meinen Augen ist es unverantwortlich, einen jungen (relativen) Anfänger, sei es nun sein Sohn oder ein anderer, mit einer derartigen „Probe“, und dies unmittelbar vor Konzertbeginn, abzuspeisen. Dadurch hat nicht nur die Reputation des Solisten, sondern mit Sicherheit auch die Valery Gergievs Schaden genommen.
Gergievs „Mini-Festival“ hatte am Vorabend mit einem Debussy-Strauss-Programm begonnen, wobei die ersten beiden Akte von Debussys „Pelléas et Mélisande“ keine weise Entscheidung waren, trotz sehr guter Leistungen von Anastasia Kalagina (Mélisande), Vladimir Moroz (Pelléas), Andrei Serov (Golaud), Elena Vitman (Geneviève) und Oleg Sychov (Arkel).
Vor diesem Konzert trat die junge russiche Sopranistin Pelageya Kurennaya nach 2017 zum zweiten Mal mit einem Recital beim Mikkeli Musik-Festival auf, kongenial begleitet von Marita Viitasalo. Waren im vorigen Jahr noch viele Plätze frei geblieben, so war der Kammermusiksaal diesmal total gefüllt. Der Mundfunk, bei diesem Gast (nicht Mitglied) des Mariinsky-Theaters ein herausragendes Talent vor sich zu haben, hatte gute Arbeit geleistet, und die Erwartungen waren hoch.
Pelageya Kurennaya und Marita Viitasalo nach ihrem erfolgreichen Recital. Foto: Archiv Sune Manninen
Und alle Erwartungen wurden vollauf erfüllt, was nicht zuletzt an der idealen Partnerschaft von Solistin und Piano-Partnerin lag. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn irgendein Verantwortlicher des Mariinsky-Theaters bei diesem Recital anwesend gewesen wäre, bei dem Pelageya Kurennaya zeigte, dass es ein Versäumnis ist, sie an diesem Haus in die „Schublade“ der Interpretin von Werken des Komponisten Rodion Shchedrin zu stecken (zwar sehr ehrenvoll, aber auch riskant, da Kurennaya dafür ihr Material künstlich drosseln muss), sie ansonsten mit Mini-Partien vom Typ „Herr Graf, die Pferde sind gesattelt“ abzuspeisen. Dies ist ein junger lyrischer Sopran mit einem sehr aparten Timbre von hohem Wiedererkennungswert, einer sattelfesten Technik ihres vollkommen homogen geführten Materials und großer Ausdrucksstärke, garniert mit der Fähigkeit, mit dem Publikum unmittelbar zu kommunizieren. Kurennaya sang im ersten Teil Romanzen von Tchaikovsky und Rachmaninov, zudem Lieder von Strauss (bei „Morgen“ mit erstaunlich gutem Deutsch!!!), Poulenc, Verdi und Rossini, während der der Oper gewidmete zweite Teil u.a. mit Rusalkas Lied an den Mond und Mimis und Violettas brillant vorgetragenen Arien schon auf ihr zukünftiges Fach hindeutete. Gibt es am Mariinsky-Theater wirklich so viele Sängerinnen solcher Rollen wie Marfa, Susanna oder Adina (um nur einige zu nennen, in denen ich Kurennaya sofort ansetzen würde), die um so vieles besser sind als sie, die statt mit Susanna mit Barbarina betraut wird?
Fazit: Das Mikkeli Musik-Festival ist zweifellos immer (noch) besuchenswert, aber es hat ein Problem, und dieses Problem heißt Valery Gergiev. Wenn das Mariinsky-Theater erst im April in der Lage ist, ein bereits Anfang Juli beginnendes und auf ein Mehr an Einnahmen dringend angewiesenes Festival mit einem zu veröffentlichenden Programm zu „beliefern“, heißt es, die Attraktivität Valery Gergievs für ein finnisches Publikum zu überschätzen. Was bei dessen Moskauer Oster-Festival üblich ist, dass man das Programm zumindest im Internet erst HINTERHER erfährt, funktionert mit Sicherheit in Mikkeli nicht. Die Zuschauer buchen, anders als z.B. in St. Petersburg, nicht blind das Mariinsky, sondern möchten gerne wissen, was es als musikalisches Menü gibt. Das Fernbleiben vieler ausländischer Gergiev-„Groupies“ sollte zu denken geben, zumal seine Anwesenheit im nächsten Jahr durch Bayreuth („Tannhäuser“), Baden-Baden, München, Verbier etc. sicherlich nicht ausgedehnter sein wird. Und für Gruppen, die man für eine bessere Bilanz eigentlich bräuchte, wäre es unerlässlich, ein Programm möglichst frühzeitig zu veröffentlichen. Doch wo Gergiev „drauf steht“, ist auch Gergiev „drin“. Á la Mariinsky – same precedure as every year!
Sune Manninen