Sophie Koch (Charlotte). Copyright: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
WIEN/Staatsoper: „WERTHER“ – Diesmal hätte das Werk „Charlotte“ heißen müssen…
22.9. 2018 – Karl Masek
Wann hat die 1969 in Versailles geborene Mezzosopranistin Sophie Koch an der Wiener Oper zum ersten Mal die Charlotte in Jules Massenets Oper „Werther“ gesungen?
Vor mehr als 10 Jahren. Am 5. Jänner 2008. Ihr Partner in der Titelrolle damals: Rolando Villazón, nach einer seiner Stimmkrisen und Zwangspausen nach längerer Zeit wiedergekehrt. Und es herrschte „Ausnahmezustand“ in der Staatsoper. Auftrittsapplaus. „Er“ war wieder da. Die Vorstellung stand minutenlang still. Dann: eine aufregende Aufführung mit packender Charakterstudie von Villazón und vor allem einer fulminanten Leistung von Sophie Koch beim Rollendebüt im Haus am Ring.
Diesmal hätte der russische Tenor Dmitry Korchak in der Titelrolle Partner der Französin sein sollen. Doch sein geplantes Rollendebüt fiel krankheitsbedingt ins Wasser. Als Ersatz wurde der Italiener Stefano Secco verpflichtet. Der 1970 in Mailand geborene Tenor ist nicht unbedingt ein Neuling. In bisher 16 Vorstellungen hat er bereits sieben Rollen in Wien verkörpert, aber kaum eine öfter als zweimal. Der hat anscheinend immer Zeit zum Einspringen. Erst im vergangenen Juni vertrat er kurzfristig in einer „Tosca“-Vorstellung den absagenden Aleksandrs Antonenko als Cavaradossi.
Dass er im unvorteilhaften Kostüm (Peter Pabst, Petra Reinhardt) des 2. Aktes in der 59. Aufführung der Inszenierung von Andrei Serban eher wie ein unscheinbarer Pastor aussah als ein exzentrischer, selbstmordgefährdeter Dichter, der an sich selbst und der Welt zerbricht: Das kann man einem Einspringer nicht anlasten. Jedoch: es verstärkte eine blasse, geradezu biedere Bühnenerscheinung zusätzlich. Stimmlich? Nun ja. Nach französischer Stilistik klang das nicht wirklich. Gerade, offene, etwas trompetige „Italianitá“, trockene Stimme, wenig glanzvolle Höhen. Das darstellerische und gestische Repertoire ging über verzweiflungsvoll vor das Gesicht geschlagene Hände kaum hinaus. Und „Pourquoi me reveiller“, der Prüfstein im 3.Akt, klang verspannt. Die Nervosität vor den heiklen, typisch Massenet’schen Sext-Aufschwüngen war ihm anzumerken. Dank gebührt ihm dafür, wieder einmal eine Vorstellung gerettet zu haben. Er wurde vom Publikum sehr freundlich akklamiert.
Diesmal hätte die Vorstellung allerdings „Charlotte“ heißen müssen. Sophie Koch hat in dieser Rolle (ihr 12. Auftritt als Charlotte in Wien) kaum Konkurrenz zu fürchten. Nach wie vor zeigt sie ein eindringliches Rollenporträt (reißt im 3. Akt, wenn der Prüfstein für den Tenor glücklich überstanden ist, sogar diesen mit), singt und spielt eine packende Briefszene. Ovationen zum Schluss für sie.
In der Gunst des Publikums dichtauf die quirlige Maria Nazarova, die eine entzückende Sophie mit der ihr eigenen, besonders einnehmenden Art als optimistische Frohnatur sang und spielte.
Clemens Unterreiner (Albert). Copyright: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Durchwegs gute Leistungen kamen vom Ensemble. Clemens Unterreiner gestaltete sein Rollendebüt als Albert mit markanter Stimme und rollenadäquater Darstellung den ungeliebten (und auch ziemlich unsympathischen) Verlobten der Charlotte. Seine Karriere-Entwicklung lässt sich bei diesem Werk besonders schön belegen. Hat er doch bei der seinerzeitigen Premiere (Februar 2005) die Winzigrolle des „Brühlmann“ mit dem einen Wort: „Klopstock“ gesungen.
Zwei weitere Rollendebüts an diesem Abend: Hans Peter Kammerer darf nach dem Samiel wieder eine Rolle singen und tut dies als Le Bailli (der fortpflanzungsfreudige Amtmann mit den vielen Kindern, dem Chor der kleineren Geschwister von Charlotte und Sophie) mit Gusto. Die Kinder der Opernschule der Wiener Staatsoper legten sich sowohl stimmschön als auch lautstark ins Zeug. Der Amtmann hat’s nicht leicht mit dem Nachwuchs!
Ayk Martirossian (Johann, RD) erwies sich wieder einmal als einsatzfreudiges, verlässliches Ensemblemitglied, der Routinier Benedikt Kobel liefert immer präzise Charakterstudien.
Frédéric Chaslin leitete mit Einsatz und Verve eine Vorstellung, die er vor allem im 3. Und 4. Akt dramatisch zuspitzte. Das Orchester der Wiener Staatsoper spielte klangschön und durchaus französisch inspiriert.
Dass Details der Regie (im durchaus atmosphärischen Bühnenbild, man wird ja bescheiden, vergleicht man mit einer eingekauften Aix-en-Provence-Produktion!) immer noch intakt sind, merkt man, wenn Charlotte ihre vielen kleineren Geschwister am Anfang nicht mit Brot versorgt (wie es im Libretto steht), sondern immer noch Schwedenbomben(!) aufwartet.
Karl Masek