STUTTGART: Ariodante“ von Händel in der Staatsoper Stuttgart
SPUREN DER VERWANDLUNG
Premiere von Georg Friedrich Händels Oper „Ariodante“ am 5. März 2017 in der Staatsoper/STUTTGART
Ana Durlovski, Diana Haller. Copyright: Christoph Kalscheuer
Wie Gladiatoren im Circus Maximus betreten die Potagonisten hier die Bühne in der nicht immer gleich starken Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito. Händels Oper feiert hier tatsächlich eine Kutur der Verwandlung, Verkleidung und Verführung. Alles endet jedoch mit dem unbeschwerten „Happy End“ einer Hochzeit in historischen Kostümen, wobei das Regieteam hier einen gewaltigen Zeitsprung von der Moderne in die Barockzeit vollzogen hat (Bühne und Kostüme: Nina von Mechow). Das Theater ist dabei ein wirklich unverzichtbarer Ort des kreativen Experimentierens. Ariodante, ein junger italienischer Ritter, hat im schottischen Heer Karriere gemacht. Dem Aufsteiger wird deswegen die Hand von Prinzessin Ginevra versprochen, was ihn zugleich in den Rang des Thronfolgers katapultiert. Doch diese Vermutung erweist sich als fataler Trugschluss. Denn Polinesso, der von Ginevra abgewiesene Herzog von Albany, setzt die Glückssuche der Liebenden einer grausamen Bewährungsprobe aus. So zerbrechen schließlich die Lebensentwürfe der gegen alle Konventionen vereinten Liebenden Ariodante und Ginevra. Ariodante macht einen Selbstmordversuch, den er überlebt. Im Kampf um Ginevras Ehre erschlägt Luciano Polinesso. Und der totgeglaubte Ariodante kehrt zurück und spricht Ginevra von aller Schuld frei. Dalinda erhört Lurcanios Liebe. Und Ginevra wird aus dem Kerker erlöst.
Im Rahmen dieser ungewöhnlichen Inszenierung gibt es sogar einen Boxkampf, bei dem zwei Männer heftig um die Ehre einer Frau kämpfen. Im Hintergrund nimmt man in Video-Projektionen die Figuren der Handlung wahr. Es ist ein psychologisch geschicktes therapeutisches Rollenspiel, das Jossi Wieler und Sergio Morabito da vorführen. Allerdings ist es überzeugender wie manche szenische Lösung der Aufführung, die zuweilen etwas blasser wirkt. Doch es gibt viele originelle Ideen. So kommt Rousseau in Zitaten zu Wort, der über den Beruf der Schauspielerin in köstlich-geistreicher Weise sinniert: „Die Schamlosigkeit passt so gut zum Stand der Schauspielerinnen, und sie wissen das selber so gut, dass es nicht eine unter ihnen gibt, die sich nicht lächerlich zu machen glaubte, wenn sie auch nur so täte…“
Christophe Dumeaux. Copyright: Christoph Kalscheuer
Das Staatsorchester Stuttgart bietet unter der impulsiven Leitung von Giuliano Carella allerdings eine hervorragende Leistung. Die dramatische Tonsprache wird hier dem modernen Fühlen angeglichen, was insbesondere den Sängerinnen und Sängern sehr zugute kommt. Matthew Brook als der König von Schottland verteidigt die Ehre seiner Tochter glaubhaft. Ana Durlovski beweist als Ginevra ihre enorme Bühnenpräsenz. Tempo und Dichte nehmen bei ihrer fulminanten gesanglichen Gestaltung ständig zu, dynamisch kontrastierende Momente ergänzen sich so gegenseitig. Divergierende Motivansätze und Motivkombinationen arbeitet Carella mit dem präzis musizierenden Staatsorchester überzeugend heraus. So kommt es auch zu einer diffizilen Charakterisierung von Figurenverhalten und Situationsschilderung. Das zeigt sich auch bei Josefin Feiler als Hofdame Dalinda. Diana Haller kann als Ritter Ariodante mit leuchtkräftigen Koloraturen brillieren. Es ist eine gesangliche Steigerung von lyrischem Beginn bis zu leidenschaftlichsten Gefühlsausbrüchen. Giuliano Carella verzichtet bei Händel glücklicherweise auf breit ausladende „deutsche“ Tempi und huldigt eher dem französischen und italienischen Geschmack. Das kommt den Sängern dieser Premiere zugute, die sich von diesem Dirigenten wie auf Händen getragen fühlen. Dies betrifft sowohl den überschwänglichen Lurciano von Sebastian Kohlhepp als auch den famosen Christophe Dumaux als Polinesso und den Günstling Odoardo in der differenzierten Gestaltung von Philipp Nicklaus. Die innere Bewegungskraft dieser Musik bleibt so immer im Fluss, stellenweise reagieren die Gesangsstimmen auch auf die einzelnen Instrumente mit ausgefeilten Figurationen. Das zeigt sich bei Franziska Finckh (Gambe), Matthias Bergmann (Basse de violon), Andrea Baur, Johannes Vogt (Laute) und Jan Croonenbroeck (Cembalo). Ana Durlovski, Josefin Feiler und Diana Haller agieren durchaus mit Bruststimme, die bis in die höchsten Lagen reicht. Ihre Darstellung erreicht eine ganz erstaunliche Kraft und Stetigkeit, die sich über alle gefährlichen dynamischen klippen souverän hinwegsetzt. Die Stimme wird oftmals so verwendet, dass sie unten voll und oben sanft ist – ganz so, wie es die barocke Praxis vorschreibt. Giuliano Carella besitzt eine besondere Affinität zu Händels Musik, sein Dirigent lässt elektrisierende Blitze aufleuchten und spornt die Sänger zu Höchstleistungen an. Und so gibt es denn auch bei den melodischen Phrasen keinerlei Ermüdungserscheinungen.
Wenn im zweiten Akt die Welt über Ginevra zusammenbricht, vermag Ana Durlovski die dunklen Vorahnungen und Katastrophen in ihrer stimmlichen Gestaltung gut einzufangen. Die schematisch starre Kadenzharmonik wird so immer wieder kunstvoll aufgebrochen. Die zart schwebende Satzkunst Händels korrespondiert in Carellas Wiedergabe der Ballett-Sequenzen in eindringlicher Weise. Triller und punktierte Rhythmen beschwören zuweilen eine geisterhafte Welt. Jossi Wieler und Sergio Morabito haben der früheren stark architektonischen Stuttgarter Konzeption von Willi Baumeister aus dem Jahre 1926 ein ganz bewusst technisches Konzept mit Feuerwerk-Videosequenzen und Leuchtgerüsten entgegengesetzt. Für die Sänger gab es zuletzt Ovationen, für das Regieteam dagegen Buh- und Bravo-Rufe.
Alexander Walther